Roctavian: Gentherapie gegen Hämophilie A

Die Gentherapie Roctavian kann das Blutungsrisiko bei einer Gerinnungsstörung deutlich senken. Teure Substitutionstherapien werden dann meist überflüssig.

Gentherapie gegen Hämophilie A

Die Gentherapie Roctavian schleust den Gerinnungsfaktor VIII in Blutstammzellen ein

Die Erbkrankheit Hämophilie A führt zu einem Mangel am Gerinnungsfaktor VIII, der schweren Blutungen verursachen kann. Die US-Firma BioMarin hat eine Gentherapie entwickelt, die das korrekte Faktor-VIII-Gen in Leberzellen transportiert. In ersten Studien konnte das Blutungsrisiko um etwa 80 % gesenkt werden, die Nebenwirkungen blieben moderat.

Die Europäische Union hat Roctavian im August 2022 die Zulassung erteilt1. In den USA erfolgte die Zulassung im Juni 2023.

Die Krankheit – erhöhtes Blutungsrisiko

Die Hämophilie A ist eine Gerinnungsstörung, die auf erbliche oder spontane Defekte in dem Gerinnungsfaktor VIII zurückgeht2. Die Betroffenen haben ein stark erhöhtes Blutungsrisiko, in der Folge heilen Wunden schlecht aus und es kommt zu inneren Blutungen, vor allem in Gelenken. Die Erkrankung kann in milden und schweren Formen auftreten. Das Gen für Faktor VIII wird über das weibliche X-Chromosom vererbt, es erkranken daher fast ausschließlich Männer.

Hämophilie A ist die häufigste schwere Gerinnungsstörung, etwa 1 von 5000 männlichen Geburten ist betroffen. In Deutschland leben etwa 10 000 Erkrankte, darunter 3 000 schwere Fälle. Bei intensiver medizinischer Betreuung ist die Lebenserwartung heute beinahe normal, die Krankheit ist aber weiterhin mit erheblichen Einschränkungen und Komplikationen verbunden.

Die Therapie – korrektes Gen in Leberzellen

Die Gentherapie Roctavian (valoctocogene roxaparvovec) nutzt eine Genfähre, die ein korrektes Gen des Gerinnungsfaktors VIII in Leberzellen einschleust. Die Leberzellen produzieren daraufhin den Faktor VIII und setzen diesen in das Blut frei, wo er den Ablauf einer normalen Gerinnungsreaktion ermöglicht.

Als Genfähre dient ein viraler Vektor auf Grundlage des harmlosen Adeno-assoziierten Virus 5 (AAV5). Diese Viren sind auch in der Bevölkerung verbreitet und lösen eine Immunantwort aus, die sich vermutlich auch gegen die Genfähre richtet und den Behandlungserfolg gefährdet. Laut Schätzungen des Herstellers kommt daher in den USA bei etwa 20 % der Patienten eine Anwendung von Roctavian nicht infrage. Vor Behandlungsbeginn soll ein begleitender diagnostischer Test die Anwesenheit von Antikörpern gegen AAV5 ausschließen.

Der Nutzen – Anzahl der jährlichen Blutungen um 80 % verringert

Die bislang größte Studie umfasste 134 Patienten, die mindestens drei Jahre lang beobachtet wurden3. Roctavian erwies sich als sehr erfolgreich: Die Zahl der Blutungsepisoden verringerte sich um 80 %. Zudem konnten 92 % der Behandelten auf eine vorbeugende Substitutionstherapie verzichten. Trotz der ermutigenden Ergebnisse lässt sich der Zusatznutzen von Roctavian noch nicht endgültig bestimmen4.

Ab etwa der 76. Woche war ein Absinken der Faktor VIII-Menge im Blut zu beobachten5 – es bleibt daher unklar, wie lange die Wirkung der Gentherapie anhält.

Die Nebenwirkungen – leicht erhöhte Leberwerte

Zu Beginn der Therapie können die Werte für Leberenzyme im Blut erhöht sein, allerdings nur kurzzeitig und ohne schädliche Folgen3. Es gab keine Anzeichen für ernsthafte oder langandauernde Leberschäden, schädliche Immunreaktionen oder Antikörper gegen den eingeschleusten Faktor VIII.

Die Alternativen – teure Substitutionstherapie

Eine ursächliche Behandlung von Hämophilie A war bislang nicht möglich. In schweren Fällen erhielten die Patienten eine Substitutionstherapie: Der Gerinnungsfaktor VIII wurde mehrmals wöchentlich per Injektionen eingeführt, um den Krankheitsverlauf in eine milde Form umzuwandeln. Substitutionstherapien sind teuer, in Deutschland müssen jährlich pro Patient ungefähr 240 000 Euro aufgebracht werden6.

Seit Januar 2023 ist auch der Antikörper Emicizumab (Handelsname Hemlibra) zugelassen. Er eignet sich für die Dauerbehandlung von Personen mit mittelschwerer Hämophilie A und einem schweren Blutungsphänotyp. Außerdem dürfen sie keine Faktor-VIII-Hemmkörper aufweisen. Der Antikörper wird in Abständen von ein bis vier Wochen unter die Haut gespritzt.7.

Weitere Alternativen sind der Einsatz blutstillender Medikamente, eine Aktivierung der Restaktivität von Faktor VIII mit Desmopressin, sowie die Linderung der Schmerzen. Krankengymnastik, orthopädische und psychosoziale Betreuung können unterstützend wirken.

Die Entwicklung – größere Studien laufen noch

Die Gentherapie wurde von der US-Biotechfirma BioMarin entwickelt. Die klinischen Studien starteten im Juni 2015, vor allem in Großbritannien und den USA. Bislang ist eine kleinere Studie mit 15 Teilnehmern8 sowie eine größere Studie mit 134 Teilnehmern abgeschlossen3. Eine weitere Studie untersucht, ob Roctavian auch bei Patienten angewendet werden kann, die bereits Antikörper gegen das AAV5-Virus im Blut haben.

Die Kosten – etwa 830 000 €

In Deutschland soll der Preis von Roctavian etwa 830 000 € betragen. Je nach Erfolg der Therapie kann sich der Preis in Zukunft aber noch ändern9. In den USA wurde vorerst ein Preis von 2,9 Millionen US-Dollar vorgeschlagen10.

1 Europäische Arzneimittelagentur (EMA), Roctavian (Valoctocogen Roxaparvovec), EMA/672427/2022, Stand November 2022 (Link)
2 Tallen et al., Hämophilie A und B, kinderblutkrankheiten.de, Stand Dezember 2021 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 L. Wu, BioMarin buffs up data on hemophilia A gene therapy as FDA decision deadline approaches, Endpoints News, Januar 2023 (Link)
4 Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), Erste Gentherapie bei schwerer Hämophilie A: Zusatznutzen kann nicht quantifiziert werden, Fachnews Arzneimittel, März 2023 (Link)
5 Mahlangu et al., Two-Year Outcomes of Valoctocogene Roxaparvovec Therapy for Hemophilia A, New England Journal of Medicine, Februar 2023 (Link)
6 N. Schmitt, Gentherapie der Hämophilie - Medizinisch ökonomische Analyse der AMNOG Preisverhandlungen, ePaper, BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung , Februar 2023 (Link)
7 Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Emicizumab (Hemlibra) bei Hämophilie A, gesundheitsinformation.de, Stand Juni 2023 (Link)
8 Pasi et al., Multiyear Follow-up of AAV5-hFVIII-SQ Gene Therapy for Hemophilia A, New England Journal of Medicine, Januar 2020 (Link)
9 K. Jensen, BioMarin secures hemophilia gene therapy coverage in Germany, BioPharma Dive, November 2023 (Link)
10 J. Bell, BioMarin finally secures FDA approval of hemophilia gene therapy, BioPharma Dive, Juni 2023 (Link)

Gentherapie gegen Hämophilie A

Die Gentherapie Roctavian schleust den Gerinnungsfaktor VIII in Blutstammzellen ein
Die Gentherapie Roctavian ist seit 2022 in der EU zugelassen.

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Kurz und knapp

  • die Gentherapie Roctavian transportiert ein korrektes Gen des Faktors VIII in Leberzellen
  • bei Hämophilie A-Patienten kann das Blutungsrisiko drastisch gesenkt und eine Substitutionstherapie überflüssig werden
  • die Nebenwirkungen bleiben mild bis moderat
  • noch ist unklar, wie lange die Wirkung von Roctavian anhält
  • Roctavian ist seit August 2022 in der EU zugelassen
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