Epigenetik und Umwelt: Was wird vererbt?

Vererben wir unseren Kindern nur die Gene – oder auch Informationen über die Umwelt? Die Epigenetik sorgt für Diskussionen.

Epigenetik und Vererbung

Unterschiedliche Effekte: Die Vererbung von epigenetischen Markern ist etwas anders als generations-übergreifende epigenetische Effekte.

Merkmale vererben, ohne das Erbgut zu verändern – geht das? Bei Pflanzen und Wirbellosen ist die Antwort klar: Die Umwelt kann die Erbinformation nachhaltig prägen. Sogenannte epigenetische Mechanismen ermöglichen eine Form der Vererbung, die mit der klassischen Genetik nicht zu erklären ist. Bei Säugetieren – und somit auch beim Menschen – ist die Lage jedoch komplizierter.

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Hunger und seine Folgen

Kinder, die im niederländischen Hungerwinter von 1944/45 geboren wurden, neigten als Erwachsene zum Übergewicht. Einwohner eines nordschwedischen Dorfes lebten länger, wenn ihre Großväter als Kinder wenig zu essen hatten. Aus diesen Beobachtungen zogen manche Forscher den Schluss: Die Umwelt der Großväter und Eltern beeinflusst die Gesundheit der Kinder und Enkel1.

Wie könnte man das erklären? Sicher nicht durch die klassische genetische Vererbung. Gemäß den gängigen Vorstellungen der Evolution verändern sich die Gene nur in kleinen Schritten. Das Erbgut benötigt dabei deutlich mehr als eine oder zwei Generationen, um auf eine Änderung der Umwelt zu reagieren.

Es gibt jedoch eine weitere Möglichkeit, wie Umweltreize sofort in das Erbgut eingreifen können: durch die chemische Veränderung von DNA oder von Proteinen, die an der DNA haften. Die Abfolge der DNA-Bausteine wird dabei nicht verändert und der Bauplan für Proteine bleibt gleich2.

Das Epigenom als zusätzliche Informationsebene

Diese Veränderungen der DNA beeinflussen jedoch die Aktivität der Gene: Sie wird erhöht oder erniedrigt, und in manchen Fällen werden die Gene sogar komplett an- oder abgeschaltet. Mit diesen Prozessen beschäftigt sich die Epigenetik (epi, gr. auf, über).

Epigenetische Marker – also die chemischen Änderungen am Erbgut – schaffen eine neue Informationsebene, die als Epigenom bezeichnet wird. Die Zellen des Körpers erhalten so einen Hinweis, welche Gene sie wann und wo anzuschalten haben. Nerven-, Muskel- und Blutzellen tragen zwar das gleiche Genom, doch die epigenetischen Marker sind unterschiedlich: Die Zellen entwickeln sich daher anders und erfüllen eine andere Funktion.

Manchmal werden diese epigenetischen Markierungen auch von einer Generation auf die nächste übertragen. Maispflanzen verändern spontan ihre Färbung. Bei manchen Mäusen hängt die Fellfarbe der Nachkommen davon ab, welches Futter die Mutter zu fressen bekam. Auch ein Knick im Schwanz kann weitergegeben werden. Und Rattenmütter, die unter Stress stehen, bringen ängstliche Nachkommen zur Welt.

Langfristige Prägung oder transgenerationale Vererbung?

Aber handelt es sich bei diesen Beispielen überhaupt um Vererbung? An dieser Stelle gibt es etwas Wesentliches zu beachten: Ein Fetus ist während seiner Entwicklung im Mutterleib nicht völlig isoliert. Jeder Umweltreiz, der auf die Mutter wirkt, wirkt auch auf das sich entwickelnde Kind. Da sich Keimzellen schon sehr früh im Fetus entwickeln, trifft der Umweltreiz auch sie – die nachfolgende Generation der Enkel kann somit ebenfalls direkt betroffen sein (siehe Abbildung). In diesen Fällen kann man nicht von Vererbung sprechen.

Forscher unterscheiden daher zwischen zwei unterschiedlichen Vorgängen:

  • eine transgenerationale epigenetische Vererbung liegt vor, wenn die Informationen über die Keimzellen von den Eltern auf das Kind übertragen wurde
  • ein generationsübergreifender epigenetischer Effekt liegt vor, wenn das Kind im Mutterleib von den Umweltbedingungen geprägt wurde

Eine echte epigenetische Vererbung liegt nur dann vor, wenn das übertragene Merkmal über mehrere Generationen stabil bleibt3. Erfolgt die Übertragung durch den Vater, sollte das Merkmal noch in der zweiten Generation (den Enkeln) nachweisbar sein. Bei Übertragung durch die Mutter hingegen muss das vererbte Merkmal noch in der dritten Generation (den Urenkeln) auftreten (da sich das Kind im Leib der Mutter entwickelt, hält auch deren Einfluss länger an).

Der niederländische Hungerwinter

Eine epigenetische Vererbung lässt sich beim Menschen nur schwer untersuchen. Eine der wenigen Möglichkeiten dazu bieten „natürliche Experimente‟ wie der niederländische Hungerwinter im Zweiten Weltkrieg. Im Oktober 1944 hatten die deutschen Besatzungstruppen die Lebensmitteleinfuhr stark beschränkt. Viele Niederländer mussten mit täglichen Rationen auskommen, die 900 Kilokalorien oder weniger enthielten. Erst im Mai 1945 besserte sich die Ernährungslage wieder, als die alliierten Truppen das Land befreiten.

Knapp 60 Jahre später stellten sich Forscher die Frage, welche langfristigen Auswirkungen die Hungersnot auf den Stoffwechsel hatte. Sie konzentrierten sich dabei auf Kinder, die zwischen Februar 1945 und März 1946 zur Welt kamen – also während oder kurz nach der Hungersnot. Bei den männlichen Kindern fand die Studie keine Auffälligkeiten im Stoffwechsel. Die weiblichen Kinder hingegen neigten deutlich häufiger zu starkem Übergewicht als eine Vergleichsgruppe. Und das, obwohl die genetischen Risikofaktoren für Adipositas bei ihnen nicht erhöht waren4.

Der niederländische Hungerwinter wird häufig im Zusammenhang mit der Epigenetik diskutiert. Es handelt sich dabei jedoch nicht um Vererbung: Die meisten Kinder hatten die Hungersnot im Mutterleib miterlebt und waren somit unmittelbar von der Katastrophe betroffen. Vermutlich hat dies ihr Epigenom direkt geprägt.

Överkalix und die wechselhaften Ernten

Eine andere Studie fand einen möglichen Zusammenhang zwischen Epigenom, Ernährung und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Sie wertete dazu historische Daten aus der nordschwedischen Gemeinde Överkalix aus. Im 19. Jahrhundert war dies eine bitterarme Gegend, die stark von der Landwirtschaft abhängig war. Es gab gute Jahre mit einem Überfluss an Nahrung. Aber auch viele schlechte Jahre, in denen die Ernte fast vollständig ausfiel.

Die Ernährung in einer prägenden Phase der Entwicklung – der verlangsamten Wachstumsphase vor der Pubertät – kann den Stoffwechsel ein Leben lang prägen. Wird diese Prägung auch an die Nachkommen weitergegeben? Erste Hinweise darauf lieferte die Untersuchung von Kindern, die in den Jahren 1890, 1905 und 1920 in Överkalix geboren wurden. Schwedische Forscher rekonstruierten auch, mit welcher Ernährungslage die Eltern und Großeltern dieser Kinder in den Jahren vor der Pubertät konfrontiert waren.

Die Analyse von 239 Kindern samt ihren Eltern und Großeltern kam zu folgendem Ergebnis:

  • Wenn der Vater als Kind vermutlicht hungern musste, sank für das Kind das Risiko, an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben.
  • Wenn der Großvater als Kind vermutlich im Überfluss zu essen hatte, erhöhte sich für den Enkel das Risiko, an Diabetes zu sterben.

Die Erhöhung des Diabetes-Risikos bei den Enkeln ist ein möglicher Hinweis auf eine epigenetische Vererbung. Welche epigenetischen Mechanismen daran beteiligt sein könnten, konnten die Forscher allerdings nicht herausfinden. Die Studie ist daher kein eindeutiger Beweis für eine epigenetische Vererbung.

Vererbung und Umweltreizen

Direkte Vererbung von Umweltreizen: Der Fadenwurm C. elegans vererbt eine Virus-Resistenz – ein seltenes Beispiel für eine Vererbung gemäß den Regeln von Lamarck.

Epigenetische Vererbung – beim Menschen unwahrscheinlich

Es gibt auch sonst keine Studien, die eine epigenetische Vererbung über mehrere Generationen hinweg beim Menschen belegen. Dies wird sich auch in Zukunft kaum ändern. Dazu wären sorgfältig geplante Versuche notwendig, die tief in die Entscheidungsfreiheit der Menschen eingreifen und viele Jahrzehnte dauern würden. Tiere kann man kontrolliert manipulieren und kreuzen, beim Menschen ist das unmöglich.

Zudem ist es eher unwahrscheinlich, dass eine transgenerationale epigenetische Vererbung beim Menschen vorkommt. Denn die epigenetischen Marker werden zwar bei einer Zellteilung zuverlässig weitergegeben, jedoch nicht bei der sexuellen Fortpflanzung. Beim Menschen und allen Säugetieren gibt es zwei Phasen in der Entwicklung, in denen fast alle epigenetischen Marker aus den Keimzellen entfernt werden. Zunächst direkt nach der Befruchtung der Eizelle. Und wenige Wochen später noch einmal in den Urkeimzellen des frühen Embryos. Wenn Keimzellen jedoch kaum epigenetische Marker tragen, ist auch eine epigenetische Vererbung so gut wie ausgeschlossen.

Für den Menschen gilt demnach: Epigenetische Prägung wahrscheinlich ja, epigenetische Vererbung eher nein. Die Weitergabe erworbener Eigenschaften im Sinne Lamarcks spielt wohl höchstens eine untergeordnete Rolle.

Beispiele bei Tieren und Pflanzen

Bei Tieren ist der Nachweis epigenetischer Vererbung einfacher, da kontrollierte Versuche und Kreuzungen möglich sind. So lassen sich auch seltene Beispiele bei Säugetieren finden. Bei manchen Mausstämmen werden Fellfarbe und Schwanzform epigenetisch vererbt – allerdings mit fremder Hilfe. In die Regulation dieser Gene hat sich ein fremdes DNA-Element eingeschlichen, das ein Überbleibsel einer uralten Virusinfektion ist. Dieses sogenannte Retrotransposon bildet einen Schalter, der die Aktivität des Gens reguliert. Die Zellen der Maus erkennen das Retrotransposon immer noch als Virus und versuchen, das DNA-Element abzuschalten, indem sie epigenetische Marker darauf platzieren.

Die Vererbung von Fellfarbe und Schwanzform ist jedoch kein Versuch, sich an eine veränderte Umwelt anzupassen. Sie ist lediglich ein Nebenprodukt im Bestreben der Maus, sich vor einem Virus zu schützen.

Würmer und Fruchtfliegen hingegen können erworbene Eigenschaften nachweislich vererben. Der Fadenwurm C. elegans kann beispielsweise eine Immunabwehr gegen Viren aufbauen, die mithilfe kurzer RNA-Moleküle wirkt. Diese RNA-Moleküle werden an die Nachkommen weitergegeben. Mehr als fünf Generationen lang bleiben die Würmer so vor den Viren geschützt.

Bei Pflanzen schließlich gibt es keine strikte Trennung von Keim- und Körperzellen. Eine epigenetische Vererbung ist daher bei ihnen deutlich häufiger anzutreffen. Zu den ersten entdeckten Beispielen gehört die Paramutation bei Maispflanzen. Epigenetische Veränderungen in einem Gen für Farbpigmente sorgen dafür, dass Mais zwei unterschiedliche Färbungen annehmen kann. Die Vererbung dieser Färbung folgt dann einem Muster, das den Mendelschen Regeln widerspricht.

1 Crisóstomo et al., A systematic scientometric review of paternal inheritance of acquired metabolic traits, BMC biology, November 2023 (Link)
2 Cavalli und Heard, Advances in epigenetics link genetics to the environment and disease, Nature, Juli 2019 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 Khatib et al., Calling the question: what is mammalian transgenerational epigenetic inheritance?, Epigenetics, Dezember 2024 (Link)
4 Zhou et al., Genetic analysis of selection bias in a natural experiment: Investigating in-utero famine effects on elevated body mass index in the Dutch Hunger Winter Families Study, American Journal of Epidemiology, Oktober 2024 (Link)

Epigenetik und Vererbung

Unterschiedliche Effekte: Die Vererbung von epigenetischen Markern ist etwas anders als generations-übergreifende epigenetische Effekte.

Definition der Epigenetik

Die Erforschung von Molekülen und Mechanismen, die alternative Zustände der Genaktivität im Kontext derselben DNA-Sequenz dauerhaft aufrechterhalten können7.

Aufbau des Erbguts

Wissenswertes

Epigenetik

Genomforschung

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⇒ Epigenetik

Vererbung und Umweltreizen

Direkte Vererbung von Umweltreizen: Der Fadenwurm C. elegans vererbt eine Virus-Resistenz – ein seltenes Beispiel für eine Vererbung gemäß den Regeln von Jean-Baptiste de Lamarck.

Kurz und knapp

  • Signale aus der Umwelt können das Epigenom von Zellen verändern
  • beim Menschen gibt es keine eindeutigen Beweise für die Vererbung epigenetischer Marker
  • eine epigenetische Prägung des Fetus im Mutterleib ist jedoch möglich
  • allgemein werden bei Säugetieren epigenetische Marker nur sehr selten vererbt
  • bei Pflanzen und Wirbellosen hingegen tritt eine epigenetische Vererbung häufiger auf
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