Das ENCODE-Projekt: Sind 80 % des Genoms aktiv?
Viele Forscher halten den Großteil des Erbguts für "Müll", doch das ENCODE-Projekt hält dagegen: 80 % des scheinbaren Mülls sind aktiv und - so die provokante These - erfüllen eine Funktion.
Das menschliche Erbgut ist sequenziert, aber wesentliche Fragen bleiben offen: Forscher kennen nun die Abfolge der DNA-Buchstaben, doch deren Funktion ist damit noch nicht geklärt. Weniger als 2 % des Genoms dienen als Blaupause für die Protein-Herstellung, etwa 10-15 % lassen Spuren der natürlichen Selektion erkennen - was darauf hindeutet, dass sie eine Funktion ausüben. Doch beim überwiegenden Teil des Genoms ist weiterhin unklar, für was er gut ist: DNA-Schrott, DNA-Müll oder junk DNA ist der gängige Begriff dafür.
Das Genom gemäß ENCODE
Streit um die Funktion
Auf das Humangenomprojekt folgte daher das nächste Konsortium: Das ENCODE-Projekt wurde gegründet, um die Funktion des menschlichen Erbguts zu untersuchen. In mühsamer Kleinarbeit untersuchten hunderte Forscher das gesamte Genom und fanden fast überall Hinweise, dass die Sequenzen aktiv sind1. Ihre Schlussfolgerung: Mindestens 80 % des Genoms erfüllen eine Funktion.
Doch diese Hypothese hat lautstarke Kritik hervorgerufen: Die Logik von ENCODE, dass Aktivität gleich Funktion ist, überzeugt sie nur wenig2. Für sie ist die Ansammlung von junk DNA nur eine unvermeidliche Folge der Evolution, deren Reinigungsmechanismen im menschlichen Erbgut nicht richtig greifen.
Aktivität in fast allen Bereichen
Zu Beginn des Projekts hat wohl niemand geahnt, dass es solche Kontroversen auslösen würde. Im Jahr 2003 versammelte ein führendes amerikanisches Institut, das National Human Genome Research Institute (NHGRI), eine Gruppe ausgewählter Wissenschaftler und startete ein Projekt, um die Funktion des Genoms zu ergründen. Das war der Beginn von ENCODE, der Encyclopedia Of DNA Elements (engl., Enzyklopädie der DNA-Elemente).
Die 442 Wissenschaftler aus 32 Instituten haben Herkulesarbeit geleistet: Sie führten 24 standardisierte Versuchsansätze an 147 unterschiedlichen Zelllinien aus - insgesamt 1648 einzelne Experimente. 15 Terabyte an Rohdaten wurden erzeugt. Wollte man die Ergebnisse eng bedruckt zu Papier bringen, ergäbe sich eine gigantische Schlange: 16 m hoch und mehr als 30 km lang3.
Das ENCODE-Projekt
Erste Daten wurden 2007 veröffentlicht4, und 2012 konnte ENCODE die Analyse auf das gesamte Genom ausweiten1. Man fand 2,9 Millionen regulatorische Elemente, die direkt oder indirekt die Aktivität der Gene steuern. Darunter sind 400 000 sogenannte Enhancer-Elemente, welche die Genaktivität aus der Entfernung regeln, und 70 000 Promoter, die direkt vor den Genen liegen. Zu den aktuell 20 687 Protein-Genen gesellen sich nun etwa 18 400 RNA-Gene, und viele weitere Bereiche werden ebenfalls in RNA umgeschrieben. In mindestens 80 % des Genoms konnten derartige Aktivitäten nachgewiesen werden. Die - vielleicht etwas vorschnelle - Schlussfolgerung: Von DNA-Schrott kann keine Rede mehr sein5.
Nur die Evolution zählt?
Kritiker kontern diese Hypothese gerne mit dem Beispiel der Zwiebel: Deren Erbgut ist fünfmal so groß wie das menschliche - aber die Zwiebel ist dennoch nicht fünfmal höher entwickelt. Ihrer Meinung nach sammeln sich im Genom viele nutzlose Bereiche an, weil die natürliche Selektion nicht mehr in der Lage ist, sie wirkungsvoll zu entfernen2. Anders gesagt: Es ist evolutionär weniger aufwendig, den "Müll" an Ort und Stelle zu lassen, als ihn in mühevoller Arbeit zu beseitigen.
Das ENCODE-Projekt
Laut dieser Denkrichtung gibt nur die Evolution Aufschluss darüber, ob ein Teil des Erbguts eine Funktion erfüllt oder nicht indem sie die betreffenden Sequenzen über Jahrmillionen hinweg konserviert. Und beim Menschen ergab ein Vergleich mit vielen Tierarten, dass dies höchsten für 15 % seines Genoms zutrifft.
Aktueller Nutzen und Pläne für die Zukunft
Jenseits all dieser Kontroversen können die Daten von ENCODE bereits von praktischem Nutzen sein. Mit großen Assoziationsstudien versuchen Ärzte, die genetischen Ursachen von Krankheiten aufzuklären - doch mit Protein-Genen haben die gefundenen Risikofaktoren meist wenig zu tun. Die Forscher steckten in einer Sackgasse, da nicht klar war, wie sie diese Befunde deuten sollte. Die ENCODE-Daten zeigen nun, dass diese Risikofaktoren oftmals mit regulatorischen Elemente zusammen fallen - was den Medizinern neue Lösungsansätze aufzeigen könnte.
Auch ENCODE hat einiges vor sich: Fast 90 % der Arbeit stehen noch aus, da viele Zelltypen nur oberflächlich analysiert wurden. Auch verwendeten die Forscher bislang meist Zelllinien, die schon seit Jahren im Labor gezüchtet werden. Zellen, die direkt aus dem menschlichen Körper stammen, könnten die natürlichen Verhältnisse viel besser widerspiegeln. Und ein weiteres großes Feld ist die Entwicklung - welche Bereiche des Genoms benutzt ein Embryo?
Das ENCODE-Projekt wird also weiterhin große Mengen an Daten produzieren. Unklar ist, ob diese die Kontroverse über die Funktion des Genoms auflösen können - oder ob sie den Streit weiter anheizen.
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2 Y. Bhattacharjee, The Vigilante, Science 2014 (link)
3 B. Maher, The human encyclopedia, Nature 2012 (link)
4 The ENCODE Project Consortium, Identification and analysis of functional elements in 1% of the human genome..., Nature 2007, vol. 447, pp. 799-816 (link)
5 E. Pennisi, ENCODE Project Writes Eulogy For Junk DNA, Science 2012, vol. 337, pp. 1159-61 (link)
Das Genom gemäß ENCODE
Das ENCODE-Projekt
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Kurz und knapp
- im ENCODE-Project haben sich internationale Forscher-Gruppen zusammengeschlossen, um die Funktion des Genoms aufzuklären
- 80 % des Genoms konnte eine Funktion zugewiesen werden
- 76 % des Genoms werden in RNA umgeschrieben
- 2,9 Millionen regulatorische Elemente finden sich im Genom