Nicht-codierende DNA: Mehr als „Schrott und Müll“?

Nur ein Bruchteil des Erbguts erzeugt Proteine, aber fast 99 % bestehen aus nicht-codierenden Bereichen. Wie viel davon ist „DNA-Schrott“? Das ist Gegenstand einer hitzigen Kontroverse.

Anteil der nicht-codierenden DNA

Der Großteil des menschlichen Genoms besteht aus nicht-codierenden Sequenzen
Junk DNA? Der Großteil des menschlichen Genoms besteht aus nicht-codierenden Sequenzen, deren Rolle umstritten ist. Nur für die rot markierten Bereichen ist die Funktion eindeutig bekannt. (cc-by-4.0, Quelle: L. Moran)

Nur 1 % des menschlichen Erbguts enthalten den Code für die Herstellung von Proteinen – die knapp 20 000 bekannten Gene sind hier versammelt. Was ist die Rolle der restlichen 99 %? Forschern fehlten lange die Mittel, um diese Frage zu beantworten. Erst als im Jahr 2001 die Sequenz des gesamten menschlichen Genoms veröffentlicht wurde, konnte die Rolle dieser nicht-codierenden Sequenzen systematisch untersucht werden. Doch statt allgemein akzeptierte Antworten zu finden, sind Forscher seitdem in zwei Lager gespalten.

Der Streit kreist um den Begriff junk DNA: Große Abschnitte im Genom sollen kaum mehr als „Schrott und Müll“ sein, die keinerlei Funktion aufweisen. Laut dieser Theorie haben sich die unnützen Sequenzen im Laufe der Evolution angesammelt – sie konnten schlichtweg nicht wirksam entsorgt werden.

Evolution übersieht junk DNA?

Die Begriffe „nicht-codierend“ und "junk DNA" sind dabei nicht gleichbedeutend: Viele nicht-codierende Bereiche haben Funktionen, die schon lange bekannt sind. Dazu gehören etwa die RNA-Gene, die für die Erzeugung von Ribosomen und Transfer-RNAs zuständig sind. Oder regulatorische Sequenzen wie Promotoren und Enhancer, welche die Aktivität von Genen steuern. Insgesamt beanspruchen RNA-Gene und regulatorische Elemente aber nur einen kleinen Teil des Erbguts – die Schätzung liegt bei etwa 3 %.

Unbestritten ist auch die Funktion der Introns: Sie teilen die Protein-Gene in kleinere Teile auf – Exons genannt – und ermöglichen es so, dass aus einem Gen unterschiedliche Protein-Varianten entstehen können. Allerdings sind Introns um ein Vielfaches länger als Exons: Sie umfassen etwa 43 % des menschlichen Erbguts. Dies wiederum lässt sich nicht allein durch ihre Funktion erklären: Der Großteil der Intron-Sequenzen wird daher ebenfalls der junk DNA zugerechnet.

Woran erkennen Forscher junk DNA? Viele glauben, dass die Evolution die besten Hinweise liefert: Was über Jahrmillionen hinweg bewahrt wurde, wird vermutlich auch eine Funktion besitzen. Im menschlichen Erbgut trifft dies auf ungefähr 10 % der Sequenzen zu1. Etwa 90 % des Erbguts gelten demzufolge als junk DNA: Es dient weder als Blaupause für Proteine noch sorgen evolutionäre Prozesse für dessen Erhaltung.

ENCODE: 80 % des Genoms sind aktiv

Eine andere Ansicht vertritt das ENCODE-Projekt. Dieses große Forscher-Konsortium wurde 2003 gegründet, um die Funktion des menschlichen Genoms zu untersuchen. Nach neun Jahren mühsamer Detailarbeit veröffentlichte es Daten, die darauf hindeuten, dass ein Großteil des Erbguts für die Produktion von RNA dient2,5. Die Schlussfolgerung von ENCODE: 80 % des menschlichen Genoms erfüllt eine Funktion.

Doch die Verfechter der Theorie, dass ein Großteil des Erbgut aus unnützer junk DNA besteht, konnten sie damit nicht überzeugen. Andere Studien setzen etwa den Anteil der abgelesenen DNA deutlich geringer an3,4. Und eine Modellrechnung deutet an, dass die Herstellung von RNA so wenig Energie verbraucht, dass die Mechanismen der Evolution nicht greifen6. Die Produktion der RNA ist demgemäß die Folge fehlender Selektion – und nicht ein Beweis für die Funktion der DNA.

Um die Funktion der nicht-codierenden Sequenzen ist seitdem ein Streit entbrannt, der zum Teil mit großer Schärfe ausgetragen wird7,8. Da keines der Lager bislang schlüssige Beweise vorlegen konnte, ist ein Ende der Kontroversen nicht in Sicht.

Nicht-codierende DNA und die Struktur des Erbguts

Damit bleibt viel Raum für Spekulationen. Wenn man die These von der junk DNA nicht glaubt – welche Funktion könnten diese nicht-codierenden Sequenzen haben?

Offenkundig ist, dass diese Abschnitte keine klassischen Sequenz-Informationen für die Herstellung von Proteinen speichern. Denkbar ist stattdessen, dass sie die Struktur des Erbguts beeinflussen – also dessen räumliche Anordnung im Zellkern.

Große Teile des Genoms bestehen aus sich wiederholenden Sequenzen, die ursprünglich aus Viren stammen. Diese Sequenzen könnten dazu beitragen, dass sich Chromosomen auf verschiedenste Weise zusammenlagern9. Dabei entstehen Zusammenballungen von Genen, die – obwohl sie auf unterschiedlichen Chromosomen liegen – gemeinsam reguliert werden.

Rolle der nicht-codierenden DNA

RNA – und nicht Proteine – sind das Hauptprodukt des Erbguts
Umstrittene These: Das ENCODE-Projekt behauptet, dass ein Großteil des Genoms RNA produziert – und daher eine Funktion hat.

Sich wiederholende Sequenzen bilden auch Sollbruchstellen, die eine Umstrukturierung des Erbguts ermöglichen. Dabei werden Teile von Chromosomen ausgetauscht, umgedreht, verdoppelt oder entfernt – was Krankheiten auslösen, aber auch die Evolution vorantreiben kann10.

Komplexes Genom für komplexe Lebewesen

Es gibt noch eine Reihe weiterer Theorien. Vielleicht sind nicht-codierende Sequenzen wesentlich daran beteiligt, dass sich höhere Lebewesen weiterentwickeln: Die Komplexität des Erbguts wäre dann die Voraussetzung für die Komplexität höherer Organismen.

Mutationen in diesen Bereichen könnten ebenfalls weitreichende Auswirkungen haben und Bedingungen schaffen, welche die Evolution von Proteingenen deutlich erleichtern11. Eine andere Theorie baut darauf auf, dass DNA-bindende Faktoren auch an nicht-codierende Sequenzen binden. Diese Faktoren fehlen dann an anderen Stellen, wodurch wiederum die Aktivität von Proteingenen beeinflusst wird11.

Trotz aller Fortschritte der Genomforschung – noch gibt es mehr Theorien als Fakten zur Funktion der nicht-codierenden DNA. Wesentliche Fragen bleiben ungeklärt. Forscher werden noch viel Arbeit investieren müssen, bevor ihre Antworten jeden überzeugen.

1 Christmas et al., Evolutionary constraint and innovation across hundreds of placental mammals, Science, April 2023 (Link)
2 The ENCODE Project Consortium, An integrated encyclopedia of DNA elements in the human genome, Nature 2012 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 van Barkel et al., Most "Dark Matter" Transcripts Are Associated With Known Genes, PLoS Biology 2010 (Link)
4 Brawand et al., The evolution of gene expression levels in mammalian organs, Nature 2011 (Link)
5 Nature ENCODE Explorer, 2012 (Link)
6 Lynch und Marinov, The bioenergetic costs of a gene , PNAS 2015 (Link)
7 Kopp und Mendell, Functional Classification and Experimental Dissection of Long Noncoding RNAs, Cell, Januar 2018 (Link)
8 L. Moran, The Function Wars Part XII: Revising history and defending ENCODE, Sandwalk Blog, Juni 2022 (Link)
6 Martens et al., Intergenic transcription is required to repress the Saccharomyces cerevisiae SER3 gene, Nature 2004 (Link)
7 Shaw et al., Implications of human genome architecture for rearrangement-based disorders..., Hum. Mol. Gen. 2004 (Link)
8 Zuckerkandl et al., Combinatorial epigenetics, "junk DNA", and the evolution of complex organisms, Gene 2007 (Link)

Anteil der nicht-codierenden DNA

Der Großteil des menschlichen Genoms besteht aus nicht-codierenden Sequenzen
Junk DNA? Der Großteil des menschlichen Genoms besteht aus nicht-codierenden Sequenzen, deren Rolle umstritten ist. Nur für die rot markierten Bereichen ist die Funktion eindeutig bekannt. (cc-by-4.0, Quelle: L. Moran)

Aufbau des Erbguts

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Rolle der nicht-codierenden DNA

RNA – und nicht Proteine – sind das Hauptprodukt des Erbguts
Umstrittene These: Das ENCODE-Projekt behauptet, dass ein Großteil des Genoms RNA produziert – und daher eine Funktion hat.

Kurz und knapp

  • nur 1 % des Genoms codieren für Proteine, aber bis zu 94 % werden in RNA umgeschrieben
  • die RNA kann auf das Genom zurückwirken und – direkt oder indirekt – die Aktivität von Proteingenen steuern
  • nicht-codierende DNA-Sequenzen beeinflussen die Zusammenlagerung und Rekombination von Chromosomen
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