Genmutationen lösen Erbkrankheiten aus

Es gibt Tausende von Erbkrankheiten, die auf einen einzelnen Gendefekt zurückgehen. Oft sind nur wenige DNA-Buchstaben in der Erbsubstanz verändert.

Giftstoffe in der Nahrung, energiereiche UV-Strahlen, Fehler bei der Zellteilung – viele Prozesse können unser Erbgut verändern. Manche dieser Mutationen setzen sich fest und werden von einer Generation an die nächste weitergegeben. In seltenen Fällen können sie auch Krankheiten auslösen.

Punktmutation und Deletion

Punktmutationen und Deletionen können Erbkrankheiten auslösen

Forscher kennen mehr als 6000 Krankheiten, die durch Mutationen in etwa 4400 Genen verursacht werden1. Diese Krankheiten sind meist selten: Die Betroffenen leben oft nicht lange genug, um die Genmutationen weitergeben zu können. Auch wenn die Entwicklung heilender Gentherapien Fortschritte macht, sind die meisten Erbkrankheiten kaum behandelbar.

Häufige Arten von Genmutationen

Es gibt mehrere Arten von Gendefekten, die sich in der Art und dem Ausmaß der Schädigung unterscheiden2. Bei Erbkrankheiten treten häufig Punktmutationen, Deletionen, Triplett-Expansionen und copy number variations (CNVs) auf.

1. Punktmutationen lösen die Sichelzellanämie aus

Schon der Austausch eines einzigen Buchstabens in der DNA-Sequenz – eine Punktmutation – kann schwerwiegende Folgen haben. Ein Beispiel ist die Sichelzellanämie, bei der eine Punktmutation den Blutfarbstoff Hämoglobin verändert: Er verliert seine Stabilität und neigt zum Verklumpen. Die roten Blutkörperchen verformen sich zu einer Sichel und werden vorzeitig abgebaut – Blutarmut ist die Folge3.

2. Deletionen verursachen Mukoviszidose und Muskeldystrophie

Manche Krankheiten entstehen, weil einer oder mehrere Buchstaben in der DNA-Sequenz verloren gehen (in der Fachsprache Deletion genannt). Das Fehlen von drei Buchstaben in der Gensequenz eines Proteins, das Chlorid über die Außenhülle der Zellen transportiert, führt zu einer Form der Mukoviszidose4. Als eine der Folgen sammelt sich in der Lunge zähflüssiger Schleim an, der häufige und schwere Infektionen mit Bakterien begünstigt.

Hunderte Buchstaben fehlen bei bestimmten Formen der Muskeldystrophie5, eines oft tödlich endenden Abbaus von Muskelgewebe. Die Länge der fehlenden Genabschnitte ist variabel. Ein größerer Verlust führt nicht zwangsläufig zu einem schwereren Krankheitsverlauf: Entscheidend ist die Frage, ob das betroffene Gen zumindest einen Teil seiner Funktion aufrechterhalten kann.

3. Triplett-Expansionen verursachen Chorea Huntington

Die Vervielfachung einer kurzen DNA-Sequenz – eine Triplett-Expansion – ist Auslöser der Chorea Huntington6. Eine Folge von drei Basen wiederholt sich im Huntingtin-Gen: 10 bis 30 Wiederholungen sind normal, doch darüber hinaus wird die Protein-Herstellung so verändert, dass sich in den Nervenzellen ungewöhnliche Aggregate bilden. Dadurch wird das Gehirn so schwer geschädigt, dass es unweigerlich zum Tode führt.

Triplett-Expansion und CNV

Triplett-Expansionen und copy number variations können Erbkrankheiten auslösen

Je mehr Triplett-Wiederholungen vorliegen, desto früher kann die Krankheit einsetzen und desto schwerer ist ihr Verlauf. Die Krankheit entsteht auch spontan: Der Vater kann noch gesund sein, aber das vererbte Gen weist aus ungeklärten Gründen mehr als 35 Wiederholungen auf – das Kind erkrankt an Chorea Huntington.

4. copy number variations: Rolle bei Autismus und Schizophrenie?

Ganze Abschnitte des Genoms können in unterschiedlicher Kopienzahl vorliegen (sogenannte copy number variations oder CNVs)7. Tausende oder gar Millionen von Basen fehlen oder haben sich vervielfältigt. Viele Gene können so gleichzeitig betroffen sein, und auch die Regulation eigentlich intakter Genomabschnitte wird beeinträchtigt.

Diese CNVs sind ein wichtiger Teil unserer genetischen Einzigartigkeit: Zwei menschliche Genome unterscheiden sich in durchschnittlich mehr als 1000 CNVs, das sind fast 1 Prozent der gesamten Sequenz8. CNVs wurden auch mit Krankheiten wie Autismus oder Schizophrenie in Verbindung gebracht.

Erbkrankheiten können vor Infektionen schützen

Manche Erbkrankheiten treten erstaunlich häufig auf: Im tropischen Afrika erkrankt eines von 250 Neugeborenen an Sichelzellanämie. Unbehandelt bedeutet dies den sicheren Tod, meist schon in sehr jungen Jahren – eine Weitervererbung ist damit so gut wie ausgeschlossen.

Warum hat sich die Sichelzellanämie trotzdem ausgebreitet? Tödlich verläuft sie nur, wenn die Genmutation von beiden Elternteilen vererbt wird. Eine einzelne Kopie ist hingegen von Vorteil: Sie schützt vor Malaria, an der jedes Jahr fast eine Million Menschen sterben9. Der Selektionsdruck der Krankheit ist so hoch, dass der Schutz vor Malaria evolutionär vorteilhafter war als der Tod zahlreicher Kinder.

Im Jahr 2010 entdeckten Forscher ein weiteres Beispiel: Eine in Afrika verbreitete Genvariante ist eine der Ursachen für eine schwere Nierenkrankheit10. Gleichzeitig hilft die Genmutation aber auch, den Erreger der Schlafkrankheit zu bekämpfen. Womöglich gilt dies auch bei anderen Erbkrankheiten: Für die einen sind sie ein Todesurteil, für die anderen ein Lebensretter.

1 M. Baltimore, Online Mendelian Inheritance in Man, OMIM, omin.org, Stand März 2023 (Link)
2 via medici, Ursachen und Arten von Mutationen, Thieme Verlag, Stand Januar 2023 (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 G. Tallen, Sichelzellkrankheit (Sichelzellanämie), kinderblutkrankheiten.de, Stand Januar 2019 (Link)
4 Mukoviszidose e.V., Was ist Mukoviszidose / Cystische Fibrose?, muko.info, abgerufen März 2023 (Link)
5 Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V., Muskeldystrophie Duchenne und Becker, dgm.org, abgerufen März 2023 (Link)
6 Universitätklinikum Freiburg, Die Bewegungsstörung Chorea Huntington, uniklinik-freiburg.de, abgerufen März 2023 (Link)
7 Saitou et al., An Evolutionary Perspective on the Impact of Genomic Copy Number Variation on Human Health, Journal of Molecular Evolution, Januar 2020 (Link)
8 Conrad et al., Origins and functional impact of copy number variation in the human genome, Nature 2010, vol. 464, pp. 704-12 (Link)
9 Kariuki und Williams, Human genetics and malaria resistance, Human Genetics, Juni 2020 (Link)
10 Genovese et al., Association of Trypanolytic ApoL1 Variants with Kidney Disease in African-Americans, Science, Juli 2010 (Link)

Punktmutation und Deletion

Punktmutationen und Deletionen können Erbkrankheiten auslösen
Vielfalt der Genmutationen: Punktmutationen betreffen einzelne DNA-Basen, Deletionen und Triplett-Expansionen verändern größere Genom-Abschnitte.

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Triplett-Expansion und CNV

Triplett-Expansionen und copy number variations können Erbkrankheiten auslösen
Vielfalt der Genmutationen: Punktmutationen betreffen einzelne DNA-Basen, Deletionen und Triplett-Expansionen verändern größere Genom-Abschnitte.

Kurz und knapp

  • Punktmutation: Austausch einer einzelnen DNA-Buchstaben löst die Sichelzellanämie aus
  • Deletion: Verlust von mehreren Buchstaben löst Mukoviszidose und Muskeldystrophie aus
  • Triplett-Expansionen: Die Vervielfachung von drei Buchstaben löst Chorea Huntington aus
  • CNV (copy number variation): Die Vervielfachung größere Genomabschnitte könnte bei Schizophrenie und Autismus eine Rolle spielen
  • manche Genmutationen können Erbkrankheiten auslösen, aber auch vor Infektionen schützen
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