Die Blastozyste – Mensch oder Zellhaufen?

Sind 200 Zellen bereits ein Mensch? Eine Antwort fällt schwer: Die Blastozyste steht an der Grenze zwischen Zellhaufen und Lebewesen.

Biologisch betrachtet ist die Blastozyste eine frühe Form des Embryos. Fünf Tage nach der Befruchtung bildet sie eine kleine, mit Flüssigkeit gefüllte Kugel. Nimmt die Natur ihren Lauf, entwickelt sich die Blastozyste zu einem menschlichen Fetus1.

Aufbau einer Blastozyste

Die Blastozyste besteht aus Embryoblasten (innere Zellmasse) und Trophoblasten (äußere Hülle)
Die Blastozyste steht kurz vor der Einnistung in die Gebärmutter.

Viele Forscher sehen in der Blastozyste vor allem einen Zellhaufen, aus dem sie embryonale Stammzellen gewinnen. Die Blastozyste wird dabei zerstört, die Zellen aus ihrem Inneren in der Petrischale weitergezüchtet.

Manche Religionen hingegen sehen in der Blastozyste ein menschliches Wesen, das sich am Beginn seiner Entwicklung befindet. Eine Blastozyste zerstören, um embryonale Stammzellen zu erzeugen – für manche kommt das fast einem Mord gleich.

Den Embryo schützen oder schwerkranke Menschen heilen?

Die ethische Kontroverse um die Blastozyste hat öffentliche Aufmerksamkeit erregt, weil embryonale Stammzellen eine besondere Eigenschaft haben: Sie sind pluripotent, können also jedes menschliche Gewebe hervorbringen. Forscher haben damit die Möglichkeit, die Entwicklung des Embryos und der menschlichen Organe zu untersuchen. Und Ärzte hoffen darauf, mit diesen Zellen schwerkranke Menschen zu behandeln.

Dürfen Forscher mit embryonalen Zellen experimentieren? Sieht man die Blastozyste als Zellhaufen, ist sie ein menschliches Gewebe wie Niere und Leber auch: Deren Verwendung für die Forschung wird akzeptiert, eine Transplantation sogar ausdrücklich erwünscht.

Hält man den Embryo jedoch für ein menschliches Wesen, sind „verbrauchende Forschung“ und medizinische Anwendung kaum akzeptabel2.

Naturwissenschaften, Religionen und die Philosophie sehen diese Frage aus unterschiedlichem Blickwinkel. Von einer gemeinsamen Position sind sie weit entfernt.

Die Religionen sind uneins

Religionen beschäftigen sich seit jeher mit der Frage der menschlichen Existenz. Doch fragt man sie nach dem Beginn des menschlichen Lebens, erhält man beinahe so viele Antworten, wie es Religionen gibt.

Für Hindus und Buddhisten betritt die Seele den Embryo, wenn Samen und Eizelle verschmelzen. Auch für die meisten evangelikalen und katholischen Christen beginnt das Leben mit der Empfängnis – die Embryonenforschung wird daher strikt abgelehnt.

Die meisten protestantischen Christen sehen das Problem differenzierter: Die Befruchtung ist zwar der Anfang des Lebens, aber zu einem vollwertigen Menschen wird der Embryo erst später. Ein Verbrauch von Blastozysten wird daher mit Bauchschmerzen akzeptiert, wenn die Heilung von todkranken Menschen das Ziel ist.

Für die jüdischen und islamischen Religionen schließlich ist der frühe Embryo noch kein Mensch – frühestens an Tag 40 empfängt er eine Seele (bis 1869 sah das auch die katholische Kirche so). Der Forschung mit Blastozysten steht also nichts im Wege.

Diese kurze Betrachtung macht bereits klar: Einen Konsens werden Religionen nicht herstellen. Zu unterschiedlich ist ihre ethische Bewertung der Blastozyste, zu gegensätzlich die daraus folgende Akzeptanz von Forschung und Medizin.

Die Philosophie führt das Bewusstsein an

Und jenseits der Religionen? Eine klare Position hat der umstrittene Philosoph Peter Singer formuliert3: Solange der menschliche Embryo nicht die Fähigkeit hat, Schmerzen zu empfinden, kann man ihm auch kein Leid zufügen. Die Blastozyste ist für ihn daher noch keine menschliche Person mit ethischen Rechten.

Damit greift Singer etwas auf, was weithin akzeptiert wird: Der Mensch ist Mensch weil er über Bewusstsein verfügt. Auf dieser Grundlage schalten Ärzte die lebenserhaltenden Maschinen ab, wenn beim Patienten der Hirntod eingetreten ist. Denn ohne funktionierendes Gehirn kein Bewusstsein – und ohne Bewusstsein kein menschliches Leben.

Wann entwickelt der Embryo ein Bewusstsein? Das weiß man noch nicht. Peter Singer schlägt vor, Versuche mit Embryonen bis zum 28. Entwicklungs­tag zu erlauben. Ansonsten gibt er diese Frage an die Natur­wissen­schaften weiter.

Die Naturwissenschaft sieht einen fließenden Prozess

Doch die Wissenschaft hilft nur begrenzt weiter. Der frühe Embryo entwickelt sich rasch, in schneller Folge entstehen neue Zellarten und Gewebe. Diesen Prozess können Forscher beschreiben und in unterschiedliche Stufen einteilen. Doch die sind in hohem Maße willkürlich.

Die Entwicklung des Embryos ist im Wesentlichen ein kontinuierlicher Prozess, fließend geht eine Stufe in die nächste über. Ein markanter Punkt, an dem der Embryo sprung­haft eine neue Qualität erwirbt, ist selten auszumachen. Damit tragen auch schon die frühen Formen jedes folgende Stadium als Möglichkeit in sich.

Dennoch werden oft zwei Ereignisse herausgestellt, die eine gewisse Zäsur darstellen. So ist die Einnistung der Blastozyste in die Gebärmutter (beginnend mit Tag fünf) entscheidend für das Überleben des Embryos. Eventuell steuern Signale aus dem mütterlichen Gewebe sogar die weitere Entwicklung – was bedeuten würde, dass aus der Blastozyste allein gar kein Kind entstehen könnte4.

Tag 14 als Kompromiss

Das zweite Ereignis findet an Tag 14 statt. Die erste wahr­nehm­bare Struktur des Embryos (der Primitivstreifen) erscheint und markiert die beginnende Differenzierung des Zellhaufens. Erst danach bilden sich die verschiedenen embryo­nalen Gewebe aus. Ein Gremium von englischen Experten schlug daher bereits 1984 vor, die Embryonen­forschung bis zum Tag 14 zu erlauben.

Im Jahr 2016 ist es erstmals gelungen, menschliche Embryonen bis zum Tag 13 im Labor am Leben zu erhalten4. Dabei wurde offensichtlich, dass sich die Embryonal­entwicklung von Menschen und Mäusen (die bislang als Modell herhalten mussten) deutlich unterscheidet. Wenn Forscher mehr über die menschliche Entstehung – und über häufige Komplikationen während der Schwangerschaft – lernen wollen, ist die 14-Tage-Grenze und großes Hindernis. Tatsächlich wurde diese Regel erst kürzlich wieder in Frage gestellt5 – die Diskussion ist noch lange nicht beendet.

Fazit

Zellhaufen oder werdender Mensch – die Frage bleibt unbe­antwortet. Religionen und Philosophie schaffen keinen Konsens, der Wissenschaft fehlen klare Kriterien und belast­bare Fakten. Die Antwort muss jeder für sich selbst finden.

Teil 1/2: Die Blastozyste – Hohlkugel mit potenten Zellen
Teil 2/2: Blastozyste – Zellhaufen oder Mensch?
1 Firmin und Maitre, Morphogenesis of the human preimplantation embryo: bringing mechanics to the clinics, Seminars in Cell and Developmental Biology, Dezember 2021 (Link)
2 Deutsches Referenzzentrum für Ethik in den Biowissenschaften, Kernfragen der ethischen Diskussion, abgerufen im März 2022 von drze.de (Link)
alle Referenzen anzeigen 3 P. Singer, Die Ethik der Embryonenforschung, Aufklärung und Kritik , Sonderheft Nr. 1 / 1995 (Link)
4 C. Kummer, Zum Diskurs der Beurteilung des menschlichen Lebensanfangs, Grenzüberschreitungen. Kulturelle, religiöse und politische Differenzen im Kontext der Stammzellenforschung weltweit. Agenda: Münster 2005, pp. 61-76
5 Science Media Center Germany, Internationale Leitlinien weiten Anzucht von Embryonenmodellen aus Stammzellen aus, Mai 2021 (Link)

Aufbau einer Blastozyste

Die Blastozyste besteht aus Embryoblasten (innere Zellmasse) und Trophoblasten (äußere Hülle)
Die Blastozyste steht kurz vor der Einnistung in die Gebärmutter.

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Kurz und knapp

  • die Weltreligionen sind uneins über den Anfang des menschlichen Lebens; vom ersten bis nach dem vierzigsten Tag nach der Befruchtung reicht das Spektrum
  • der Philosoph Peter Singer verknüpft die Mensch-Werdung mit dem Bewusstsein; wann der Embryo die Fähigkeit zur Empfindung erlangt, ist aber unklar
  • die Naturwissenschaften beschreiben die Embryonal-Entwicklung als kontinuierlichen Prozess; Zäsuren bilden am ehesten die Einnistung in die Gebärmutter (Tag 5/6) oder die Ausbildung des Primitivstreifens (Tag 14)
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